Sonntag, 29. September 2013

Stimme, System und Sperrklausel

Das die Wahlen Anlass zum Bloggen bieten, habe ich erwartet. Dass sie gleich so ausgehen, wie sie ausgegangen sind, war dann doch etwas überraschen. Aber Themen gibt es trotzdem, z.B. die 5%-Hürde, auch "Sperrklausel" genannt. Denn nach den Ergebnissen der Bundestagswahl von letztem Sonntag hat die 5%-Hürde ein gewisses Problem bekommen. Ob es ein verfassungsrechtliches Problem ist, darüber lässt sich trefflich streiten - aber ein Imageproblem hat die Sperrklausel in gewissen Kreisen jetzt in jedem Falle.

Der von mir begeistert gelesene Verfassungsblog hat schnell reagiert, das Thema aufgegriffen und bereits mehrere sehr lesenswerte Beiträge pro und contra Sperrklausel veröffentlicht. Zu einem der Artikel (natürlich gegen die Quote) habe ich vore einigen Tagen einen Kommentar geschrieben, der sich im Laufe des Schreibens soweit ausgewachsen hat, dass ich ihn gleich noch - etwas ausgebaut - zu einem Blogpost mache.

Stimmen ohne Wert...

Das Bundestagswahlergebnis ist im Hinblick auf die Sperrklausel deswegen problematisch, weil von den abgegebenen, gültigen Stimmen lediglich 84,2% der Stimmen Eingang in die Sitzverteilung des Bundestags Nr. 18 gefunden haben.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Insgesamt 15,8% der abgegebenen, gültigen Stimmen wurden durch die 5%-Hürde "genullt". Sie waren, wie man umgangssprachlich sagt, "für die Tonne".

Wo genau ist aber dabei das Problem?

...bei der Mehrheitswahl...

Ein gerne gebrachtes Argument für die Sperrklausel ist, dass es im Mehrheitswahlrecht ja durchaus vorkommen könnte, dass dort viele, oftmal die Mehrheit der Stimmen keine Wirkung haben - bei relativer Mehrheitswahl wie im Vereinigten Königreich sogar weit über 50%, wenn es schlecht läuft. Warum also ist es so schlimm, wenn bei uns im Verhältniswahlrecht 15% der Stimmen keine Wirkung haben?
Im Vereinigten Königreich, den USA oder Frankreich spielen doch noch viel mehr Stimmen keine Rolle? Dieser Verweis auf die Mehrheitswahl ist prinzipiell schon richtig, hilft bei der Debatte um eine Sperrklausel aber nicht wirklich weiter, denn man kann die beiden Systeme nicht einfach so vergleichen.

Es ist natürlich richtig, dass bei einem Parlament, dass nach Mehrheitswahl bestimmt wird, theoretisch bei absoluter Verhältniswahl 49% der Stimmen, bei relativer Verhältniswahl sogar noch viel mehr Stimmen unberücksichtigt bleiben können.
Aber: Wie viele Stimmen geanu unberücksichtigt bleiben, spielt für die Mehrheitwahl keine Rolle. Ob es 1%, 10%, 25%, 49% oder gar ist, ist schlicht egal, denn das Verhältnis der Stimmen hat ja keinen Einfluss auf das Wahlergebnis - und das wird einem auch vorher gesagt.

Bei der Mehrheitwahlrecht wird nämlich nicht die Behauptung aufgestellt, dass jede Stimme zählt und sich in der Sitzverteilung wiederspiegeln, sondern nur, dass die Stimmen der Mehrheit des Wahlkreises zählen. Bei den Ergebnissen der Unterhauswahl 2010 im Vereinigten Königreich lässt sich schön erkennen: Das Stimmverhältnis hat mit der Sitzverteilung einfach nichts zu tun - muss es aber auch nicht. Das ist dem Wähler aber auch vorher klar und er weiß, wenn er seine Stimme nicht für einen der  - meistens zwei - "Big Player" abgibt, ist sie verschwendet (weswegen ein Mehrheitswahlrecht fast zwangsläufig zur Konzentration auf zwei große Parteien führt).


... und der Verhältniswahl

Das Verhältniswahlrecht (ob personalisiert oder nicht ist hierbei egal, das ist ja mehr ein nettes "Zusatzfeature", das am Prinzip nichts ändert) proklamiert aber ja vom Grundsatz her eben (im genauen Gegensatz zum Mehrheitswahlrecht), dass jede Stimme gleich viel Gewicht bei der Ergebnisermittlung hat, und zwar nicht nur vom Zählwert [= jeder hat genau eine Stimme, keiner zwei, keine wird mehrfach gezählt], sondern auch und vor allem vom Ergebniswert her [= jede Stimme hat genau den selben Effekt bei der Ergebnisermittlung].

Der Wähler kann also mit dem Anspruch an eine Wahl gehen, dass er die seiner Meinung nach "beste Partei" wählt und sich seine Stimme auf die Stimmverteilung im Parlament auswirkt. Im theoretischen Optimum nimmt also jede abgegebene Stimme an der Sitzverteilung teil. In der Realität lässt sich das natürlich nicht machen, aber so lange diese Prämisse für den weit überwiegenden Großteil der Stimmen gilt, ist eine Sperrklausel ein guter Kompromiss, um eben den Wildwuchs zumindest ein bisschen klein zu halten und wirkliche "Splitter" rauszuhalten.

Wenn aber nun die Sperrklausel dazu führt, dass ein relevanter Teil der abgegebenen Stimmen nicht mehr an der Ergebnisermittlung teilnimmt, kommt man zu einem systemischen Problem. Im Verhältniswahlrecht ist ja eben gerade nicht vorgesehen, dass eine Stimme im Erfolgswert "genullt" wird - denn das verzerrt ja das Ergebnis und läuft der Intention, den Wählerwillen konkret abzubilden, konträr entgegen. Und je mehr Stimmen keine Berücksichtung bei der Sitzverteilung finden, desto stärker wird statt dem Wählerwillen ein systemwiedriges Ergebnis abgebildet.

Das Problem erkennt man bei der aktuellen Wahl sehr gut: Dass es im neu gewählten Bundestag eine (theoretische) "linke Mehrheit" gibt, entspricht nicht wirklich dem Wählerwillen. Denn wenn man die Sperrklausel auf 3, 2 oder 1% senken würde und also die Anzahl der genullten Stimmen drastisch reduziert, sähe das Bild mit FDP und AfD (und möglicherweise den Piraten) plötzlich ganz anders aus. Und genau daran wird die Problematik sehr deutlich: Wenn das Wahlsystem nicht mehr hält, was es verspricht, nämlich den Wählerwillen möglichst genau abzubilden - und zwar den Willen aller Wähler, nicht nur der "relevanten" Wähler -, wenn also Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis zu sehr divergieren und dabei Phantasiezusammensetzungen des Bundestags herauskommen, dann bekommt das System ein massives Problem.

Um mal mit einer Binsenweisheit abzuschließen: Wahlen dienen ja gerade dazu, den Willen der Wähler darzustellen, und Wahlsystem sollten Hilfsmittel dafür sein. Wenn eine Wahl den Wählerwillen nicht mehr ordentlich abbildet, dann braucht man sie eigentlich auch nicht - eine fatale Folge für eine Demokratie.

Politische Legitimationsprobleme

Daraus resultiert noch ein ganz anderes Problem: Jede durch die Sperrklausel genullte Stimme stellt ein massives Repräsentanzproblem dar.

Dass ein Sitzmehrheit im Parlament nicht (mehr) zwangsläufig eine Mehrheit aller Bürger repräsentiert, daran haben wir uns angesichts einer Wahlbeteiligung von irgendwas um die 70% gewöhnt, und man kann Kritik in diesem Punkt ja auch mit dem Argument "Dann hätten sie halt zur Wahl gehen müssen" entgegnen.
"Qui tacet consentire sidetur", könnte man sagen, würde man Latein sprechen, also "wer schweigt, scheint zuzustimmen" oder einfach ganz platt: Wem's nicht passt, der hätte ja wen anders wählen können.

Aber: Wenn eine Sitzmehrheit im Parlament nun auch nicht mal mehr eine Mehrheit der Wähler darstellt, wird es auch für die Politik in Sachen rechtfertigung schwierig. Denn ein Wähler, dessen Stimme abgegeben wurde, aber bei der Ergebnisermittlung unberücksichtigt bleibt, wird einfach nicht politisch vertreten. (Ja, ich weiß, Art. 38 Abs. 1 GG sagt, die Abgeordneten seien "Vertreter des ganzen Volkes" - die Realität sieht aber einfach anders aus.)
Niemand kann bei einem FDP-, AfD- oder Piraten-Wähler nach dieser Wahl behaupten, dass er von einer Partei im Parlament "mitvertreten" wird. Denn er wollte offensichtlich von jemand anderem vertreten werden.
Die Folge: Knapp 15% der Wähler, was ungefähr 10% der wahlberechtigten Bevölkerung entspricht, bleiben unvertreten. Was bedeutet, dass einer von zehn Bürgern in den nächsten vier Jahren ohne jede politische Repräsentanz auf Bundesebene bleiben wird.

Für eine repräsentative Demokratie ist das eine ziemlich problematische Ansage. Sowohl was die Vertretung der Wähler als auch was die Legitimation der Gewählten angeht.


Weg mit der 5%-Hürde?

Was sollten nun die Konsequenzen sein? 5%-Hürde abschaffen? Reicht also ein außergewöhnliches Wahlergebnis, um gleich mal wieder das Wahlsystem verändern zu müssen? Führt die Wirkung der 5% zu ihrer eigenen Verfassungswidrigkeit? Das sind natürlich berechtigte Fragen - auf die man allerdings entgegnen kann, dass nochmal vier Jahre solche Verzerrungen in Kauf zunehmen, nur um zu schauen, ob es nicht vielleicht doch wieder "besser" wird, ja auch keine Lösung sein kann.
Ich finde, man kann dieses Thema zumindest nicht einfach zu den Akten legen. Ich würde fast drauf wetten, dass wir vor den nächsten Wahlen nochmal ne Meinung von den Richtern in den roten Roben aus Karlsruhe dazu hören werden - ich möchte aber nicht raten, was diese Meinung sein wird.

Auf Karlsruhe muss, darf und sollte die Politik aber hier nicht warten, sondern selbst aktiv werden. Und ob das nun bedeutet, die Sperrklausel pauschal auf 3% zu senken, oder aber eine Art Flexi-Sperrquote nach dem System "Wenn bei 5% weniger als X% der Wählerstimmen im Parlament repräsentiert sind, dann sinkt die Quote auf 4% (3 oder was auch immer)" wird, das muss eben diskutiert werden.
Gezwungenermaßen von einem etwas eingeschränkt repräsentativen Bundestag Nr. 18.


Edit (30.09.): Ich hatte in diesem Posting mehrfach den Bundestag Nr. 17 erwähnt. Gemeint war jedoch der neu gewählte, 18. Bundestag, weswegen ich das nach einem Hinweis korrigiert habe. Mea culpa.

Montag, 9. September 2013

Mein Problem mit Olympischen Spielen in 2022 München

Das IOC hat am Samstag Tokio den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2020 erteilt. Man könnte auch sagen: Tokio ist damit das offizielle IOC-Wirtstier für die Sommerspiele 2020.
Mit einer gewissen Schadenfreude habe ich dabei die Kandidatenstädte, aus denen die ehrenwerten Herren des IOC auswählen konnten, gehört: Madrid (Euro- und Staatsschuldenkrise), Istanbul (Polizeibrutalität, Erdogan und Syrien liegt auch um die Ecke) und Tokio (Fukushima). Mal schauen, was aus der Entscheidung wird, aber so gesehen hätte ich mich bei dieser Auswahl wahrscheinlich auch für Tokio entschieden.
Auch für die Winterspiele 2022 würde ich mich für Tokio entscheiden. Oder für Lhasa (Tibet). Auch für Singapur. Eigentlich ist mir egal, welche Stadt es wird - so lange es nicht München ist.

Die Winterspiele 2022 - hoffentlich nicht in München?


Allerdings bereitet mir die nächste Wirtstierstatus-Vergabe, nämlich die für die Winterspiele 2022, größeres Bauchgrummeln. Denn bei dem Gedanken, München könnte die Olympischen Spiele 2022 ausrichten, wird mir fast schon schlecht. Und das Problem ist: Man plant ja schon wieder.
Es gibt ja kaum eine "politische" Position (ist das Politik? Wahrscheinlich...) - abgesehen vielleicht von meinem Positionswechsel in Richtung pro-Frauenquote - bei der ich meine Meinung so komplett umgedreht habe wie bei der Frage einer Bewerbung Münchens für die Olympischen Spiele: War ich noch ein Befürworter der (glücklicherweise gescheiterten) Bewerbung für das Jahr 2018,  bin ich nun strikt dagegen. Es zwar so sehr dagegen wie gegen Netzsperren. Oder die staatlich erhobene Kirchensteuer. Es geht also um eine fundamentale Frage.

Was hat sich nun genau so massiv geändert? Eine berechtigte Frage. Es liegt sicher nicht daran, dass ich die Olympischen Spiele für eine ablehnenswerte Veranstaltung halte. Ganz im Gegenteil, ich finde, die Olympischen Spiele sind – wie alle Internationalen Sportveranstaltungen – eine großartige und grundsätzlich begrüßenswerte Sache, von der ich glaube, dass man sehr viel Gutes mit erreichen kann. Wenn man denn will.
Und da liegt der Hase im Pfeffer, denn mein Problem mit den Olympischen Spielen sind nicht die Olympischen Spiele selbst - sondern es ist deren "Zuhälter", das Internationale Olympische Komitee. Meine Position zum IOC habe ich vor einigen Wochen (müsste während der Leichtathletik-WM in Moskau gewesen sein) mal in einem Tweet hinreichend deutlich gemacht:




Was ich gegen das IOC habe? Zumindest nichts wirksames. (Leider)


Das IOC ist wohl eine der einflussreichsten NGOs der Welt, wenn nicht sogar die einflussreichste NGO der Welt. Man bedenke: Rein rechtlich gesehen ist das IOC nichts anderes als ein Verein schweizer Rechts, der die Rechte an den Olympischen Symbolen und den Olympischen Spielen - also eine NGO. Und ich bin mir sicher, das IOC könnte sehr viel Gutes tun. Das Problem: Das tun sie nicht. Das IOC wirtschaftet ausschließlich in die eigene Tasche, und das ohne Rücksicht auf die politischen Umstände im Gastgeberland oder die finanziellen Gegebenheiten der jeweiligen Wirtsstadt:

Sport ist unpolitisch! Haha, von wegen.


Das IOC versucht immer unter der Behauptung, der "Sport darf nicht politisch instrumentalisiert werden", jegliche Politik raus zu halten. Ich finde es natürlich auch richtig, wenn man verhindern möchte, dass die Spiele so für eine Ideologie instrumentalisiert werden wie von Hitler 1936. Aber: Man kann etwas nicht als "unpolitisch" definieren und dann seine Macht verwenden, um jegliches politische Statement zu verbieten. Olympische Spiele sind schon aufgrund ihrer Bedeutung politisch. Und wenn man sie in Staaten mit eher zweifelhaftem Verhältnis zu Menschenrechten vergibt, wie China oder Russland, dann ist das ein politisches Statement - weil das Verbot jeglicher Äußerung dazu zwingt, lächelnd mitzuspielen, das System stützt.
Mal davon abgesehen halte ich es für ein Unding, dass eine Organisation ihre Macht verwendet, eines der fundamentalsten Grundrechte seiner Teilnehmer, nämlich deren Meinungsfreiheit, quasi komplett einzuschränken. Damit stellt sich das IOC auf eine Stufe mit Nordkorea, China, Russland oder eines der anderen sympathischen Regime, in denen man die freie Meinung nicht so sonderlich schätzt. Das ist im besten Falle ein Armutszeugnis. Im schlimmsten Falle ist es nicht mehr druckfähig.

Das IOC und seine Wirtsstädte.


Außerdem glaube ich dem IOC leider nicht mehr, dass es ihnen um die Olympische Idee geht - denn es wirkt eher so, als ginge es ums Geld. Ausschließlich. Das IOC greift den Großteil der Einnahmen ab, während die Kosten das jeweilige Land selbst tragen muss (daher meine Bezeichnung als "Wirtsstadt") - die Olympischen Spiele sind ein Verlustgeschäft, das ist ein offenes Geheimnis. Ein um so größeres Geheimnis sind dagegen die Verträge, die die Wirtsstädte mit dem IOC abschließen müssen. Und sie sind wohl aus guten Gründen geheim, ein rechtliches Gutachten, dass in München meines Wissens dazu mal erstellt wurde, besagt aber: Sie wären wohl rechts- und sittenwidrig. Wie alle juristischen Wertungen kann man darüber sicher streiten, aber das liest sich schon sehr eindeutig.
Eigentlich ist mir das aber auch völlig egal: Ich möchte weder, dass München einen Vertrag abschließt, der auch nur im Ruf steht, sittenwidrig zu sein, noch möchte ich, dass ein Vertrag mit einer Organisation geschlossen wird, die sich selbst solche Vorteile einräumt. Bei einem Blick in das Gutachten oder die Zusammenfassung wird einem ganz anders. Ich hätte gerne, dass die Bundesrepublik Deutschland, der Freistaat Bayern und die Landeshauptstadt München sich auch bei den Olympischen Spielen benehmen, als wären sie der Staat - und nicht die servilen Diener einer zwielichtigen Organisation aus dem Ausland.

München soll kein Wirtstier werden


Bis sich beim IOC also wieder grundlegend was ändert, möchte ich die Olympischen Spiele nicht in München haben. Oder irgendwo in Deutschland. Deswegen, inzwischen aus tiefster Überzeugung: Nolympia.